Pyramiden

Wir mögen sie sehr, diese lost places und ihre morbide Fotogenität, doch mit der Ansteuerung von Pyramiden haben wir uns im Vorfeld schwergetan. Denn es handelt sich um eine russische Geisterstadt, die wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine von den meisten Tourguides aus Longyearbyen boykottiert wird. Deren Kritiker wiederum sagen, dies belaste nur die Beziehungen der Menschen untereinander, wie sie auf Svalbard normalerweise gepflegt werden: nämlich vollkommen ungeachtet der jeweiligen Herkunftsländer. Wir als Reisende sind unentschieden in unserer Meinung. Die russische Kriegskasse füllen wollen wir sicher nicht und verschmähen schonmal die Anlegemöglichkeiten vor Ort, werfen stattdessen den Anker. „Peace“ steht hoch oben in den Berg geschrieben, der der Stadt ihren Namen gegeben hat, auch auf Ukrainisch und Russisch. Mit der aktuellen Situation hat das nichts zu tun, den Schriftzug gibt es schon seit Jahren. An Land informiert ein Schild, dass nur Guides, die man hier bucht, die Schlüssel zu den Gebäuden haben und deren Geschichte kennen. Und man solle nicht willkürlich herumschießen in den Straßen, sondern sein Gewehr ungeladen mitführen.

Pyramiden gilt als besonders spektakuläres Beispiel einer verlassenen Stadt. 1.000 Menschen haben hier mal vom Kohleabbau gelebt, dann wurde der Standort unrentabel und 1998 aufgegeben. Es gab Schule, Krankenhaus, Schwimmbad, Bibliothek und bis die Plünderungen überhandnahmen, konnte man sämtliche Gebäude auf eigene Faust erkunden. Angeblich haben die Arbeiter und ihre Familien alles so zurückgelassen, als wären sie nur ganz kurz weg, zum Kiosk um die Ecke. Wir begnügen uns mit der Besichtigung von außen, die Folgen von 25 Jahren Verfall sind beeindruckend und der ausnahmsweise bewölkte Himmel passt recht gut zur Stimmung hier. Manches ist eher malerisch dahingesunken oder es bröckelt nur die Fassade, vieles dagegen einfach trostlos zusammengekracht und umgeben von Schrott. Über den zentralen Platz wacht Lenin, den Blick auf ein großes Backsteingebäude gerichtet, das früher von Menschen bewohnt wurde und heute von lustvoll kreischenden Dreizehenmöwen, die jede einzelne Fensternische okkupiert (und übelst zugekackt) haben. Sie sind auch schon das Lebendigste hier, ansonsten sehen wir nur zwei, drei Männer in der Ferne herumlaufen und undefinierbare Arbeiten verrichten. Es war ein spannender, kurzweiliger Rundgang, zumal wir im Vorfeld viel über die Vergangenheit dieses Ortes gelesen hatten. Ein Gefühl für seine Gegenwart und Zukunft haben wir nicht bekommen, da hätten wir uns doch überwinden und im wiedereröffneten Hotel-Restaurant von Pyramiden gezielt Kontakt suchen müssen.

Vollkommen unkontrovers und einfach nur Natur pur waren unsere Ankerstopps vorher und nachher: Trygghamna am Eingang des Isfjorden, die geschützte Skansbukta im Billefjord, Anservika etwas südöstlich, dann Ekmanfjord und Borebukta mit ihren Gletschern im Hintergrund. Die meisten Nächte verliefen eher unruhig: Wegen des üppigen Kelps am Meeresgrund hielt der Anker nicht gut, Winddreher sorgten für Schwell und gelegentlich wurden wir davon geweckt, dass Eisbrocken an die Bordwand klopften. Selbst wenn die klein und harmlos sind, klingt das im Schiffsinneren so, als kollidiere man gerade mit dem finalen Rieseneisberg, an Schlaf ist dann nicht zu denken. Doch tagsüber wurden wir grandios entschädigt: fantastische Landschaften, immer wieder Walrosse ums Schiff, spannende Landgänge u. a. mit neugierigen Rentieren, die auf vier, fünf Meter an uns herankamen. Nun sind wir zurück in Longyearbyen, genießen die Geselligkeit am Steg, die frischen Lebensmittel aus dem Supermarkt (zuletzt war ganz schön Kahlfraß an Bord) und wertschätzen die Zivilisation. Mit einem Auge schielen wir schon auf das Wetter, doch noch ist weit und breit kein Fenster für den Rückweg in Sicht, erstmal sind üble Tiefs im Anmarsch.

Ludger
Juli 31st, 2023 at 8:35 am

„Auf Reisen nimmt man alles hin, die Empörung bleibt zu Hause. Man schaut, man hört, man ist über das Furchtbarste begeistert, weil es neu ist. Gute Reisende sind herzlos.“
Elisas Canetti in „Die Stimmen von Marrakesch“
Die wunderbaren Bilder der morbiden Immobilien erinnern mich an die verlassene Goldgräberstadt Kolmannskuppe in Namibia – dort ist der Verfallsprozess schon fortgeschrittener und Sand an Stelle von Schnee als fotogene Zutat.
Gute Rückreise und beste Grüße vom Schreibtisch, Ludger

Heidi wulf
Juli 30th, 2023 at 9:50 am

Wieder ein toller Bericht und erst die Bilder!! Die bescheidenen Versuche, Pyramiden zu beleben sind gescheitert. Der Ort ein krasser Kontrast zur unberührten Natur.
Lbgr hup

Manfred
Juli 29th, 2023 at 5:14 pm

Vielen Dank für den tollen Bericht und die klasse Bilder von Natur und coolen Walrössern…
Wünschen Euch eine entspannte Rückreise – Seeleute mit Zeit haben immer guten Wind…🤔

Heiko
Juli 29th, 2023 at 6:17 pm

… so lange wir pink oder hellblau in der Wetterkarte sehen fahren wir einfach nicht los, wenngleich wir Dieselwind nicht mehr so fürchten wie mit Frau Perkins….

Susanne
Juli 29th, 2023 at 4:18 pm

Ganz besonders gut gefallen mir diese Vogelnester in den Fensternischen – vielleicht Odessa-Möven…

Heiko
Juli 29th, 2023 at 4:39 pm

Auf jeden Fall sind es laute Möwen mit einer guten Verdauung…

Silke
Juli 29th, 2023 at 4:01 pm

Drücke die Daumen für das erwartete Wetter…. weiterhin gute Fahrt!!!!

Heiko
Juli 29th, 2023 at 4:38 pm

Danke – Wetter wird kommen…

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