Immer wieder Füße

Drei Nächte liegen wir am komfortablen Steg von Skjervøy, widmen uns an Bord den lange überfälligen Themen Ordnung und Sauberkeit und feiern insbesondere die Existenz einer funktionierenden Waschmaschine. Die Dinger sind rar im Norden und längst waren wir bei den richtig unbeliebten Unterhosen angelangt. Erstmals seit Wochen auch teilen wir einen Steg nicht mit Fischerbooten, sondern mit anderen Seglern – und dem Motorsegler „Senja“. Julia und Jens hatten wir auf den Lofoten kennengelernt, seitdem Kontakt gehalten und fleißig Tipps ausgetauscht. Nun also ein schönes Wiedersehen mit den beiden, gemeinsame Kochabende und viele kurzweilige Geschichten. Am Mittwoch letzter Woche dann trennen sich unsere Wege wieder. Unsere Weiterfahrt gestaltet sich schwierig, es ist wenig Segelbares dabei. Doch wir wollen Ende des Monats in Bodø sein, so beißen wir in den sauren Motor-Apfel, nutzen aber jeden der gelegentlichen Kap- und Düseneffekte, um blitzschnell Segel zu setzen und der Maschine (und uns) wenigstens kurze Pausen zu gönnen. Pause macht zugleich auch das schöne Wetter. Bloß während unseres Übernachtungsstopps in Nord-Lenangen bekommen wir bei einer kleinen Wanderung am Fjord entlang nochmal die Mitternachtssonne zu sehen. Danach geht es bei tristem Grau und kaltem Regen weiter: Finnkroken, Tromsø, den Rystraumen, Finnsnes, all die alten Bekannten lassen wir hinter uns, beschäftigen uns unterwegs mit Puffin-Fotografie und zählen die Meilen runter, während Raymond, unser Autopilot, stoisch seinen Job macht und den Kurs hält. Am Freitag dann: Ankunft in Hamnvik auf der Insel Rolla. Bis hierher wollten wir es unbedingt schaffen, bevor es wieder sonnig wird. Und das, sagt die Vorhersage, soll am nächsten Nachmittag passieren.

Unser Begehr auf Rolla: Die 18 Kilometer-Wanderung auf den 1.022 Meter hohen Stortinden, per Fahrrad lässt sich von Hamnvik aus der Einstieg erreichen. Der Weg beginnt arglos, führt durch Wald, an einem See vorbei, über sumpfiges Gelände, dann wird er steil und unser Tempo geht deutlich runter. Ist halt doch kein Fitness-Camp, so eine Segelreise. Eine halbe Stunde vor dem Gipfel biegen wir um eine Ecke und müssen erstmal scharf stellen, was wir sehen: Auf einem kleinen Schneefeld tummelt sich eine Herde Rentiere! Wir hören sie schnaufen, scharren, manchmal ein angedeutetes Röhren. Der Typ mit dem größten Geweih behält uns aufmerksam im Blick, scheint uns aber nicht bedrohlich zu finden, wie wir da im Gras kauern und staunen. Dann, ohne erkennbaren Grund, galoppieren sie plötzlich alle davon. Auch wir setzen unsere Tour fort und sehen die Herde wenige Minuten später wieder – hinter der nächsten Kurve auf dem nächsten Schneefeld. Es fällt schwer, sich loszureißen, so surreal ist die Szene, doch irgendwann zieht es uns auf den Gipfel. Die Aussicht ist atemberaubend! Wir tragen uns ins Gipfelbuch ein und kommen mit den zwei Norwegern aus Harstad ins Gespräch, die gerade oben picknicken. Was genau es mit dem Verhalten der Rentiere auf sich hat, wissen auch sie nicht und wir einigen uns auf das Naheliegende: dass sie bestimmt ihre Füße kühlen. Unsere eigenen sind schließlich auch ziemlich heiß gelaufen inzwischen. Einer der beiden Jungs deutet im weiteren Gesprächsverlauf an, länger in Deutschland gewesen zu sein. Als wir nachfragen, überrascht er uns mit dem schönen Slogan „Nett hier, aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“. Schallendes Gelächter auf dem Berg.

Am Sonntag verlassen wir Hamnvik und drehen den Bug nochmal nordwärts, um eine Inselgruppe zu erreichen, die uns wegen ihrer Sandstrände und Paddelmöglichkeiten reizt. Wir gehen schon selbstverständlich davon aus, wieder motoren zu müssen, doch diesmal läuft es anders, ausnahmsweise gibt es mehr Wind als erwartet: Drei bis vier Beaufort gegenan, das reicht, um zu kreuzen! Mit großer Freude machen wir aus 24 direkten Seemeilen knapp 40 im Zickzack, was für ein Genuss, bei glattem Wasser hoch am Wind! Kurz bevor wir die Segel bergen, begegnet uns noch die Yacht des norwegischen Königshauses, die „Norge“, und weicht Flying Fish bereitwillig aus. Sie wurde um 1936 in England gebaut, ist stolze 80 Meter lang und eine majestätische Erscheinung. Unser Ziel, eine Bucht der Insel Meløyvær, könnte sie mit ihren Maßen nicht erreichen und auch wir müssen uns in dieser Gegend voller Untiefen konzentrieren. Nicht jedoch bei der Suche nach einem sicheren Ankerplatz. Denn die umsichtigen Norweger haben hier und da Mooringbojen ausgebracht und die, die wir uns auf der Seekarte ausgeguckt hatten, ist tatsächlich frei! Bei aufziehendem Nebel machen wir fest. Erst als es am nächsten Morgen wieder aufklart und wir mit dem Kajak lospaddeln, sehen wir das karibisch anmutende Paradies um uns herum in voller Pracht. Vor Begeisterung peilen wir nach zwei Tagen gleich die nächste Boje an, fünf Meilen südlich in einer Bucht von Helløya gelegen. Immer noch wabert der Nebel hin und her, ein Wechsel zwischen gefühlten zehn Grad und barfuß-kurzärmelig-in-Shorts. Auch an diesem schönen Ort vergeht die Zeit gerade wie im Flug.

Die jüngsten Kajakexkursionen waren inspirierend, auch in kulinarischer Hinsicht. Neues also aus der Flying Fish-Versuchsküche: Es gab Seeigel-Pasta. Bisher hatten wir die Finger von den stacheligen Tieren gelassen, denn man kann nur einen ganz winzigen Teil von ihnen essen: die Gonaden, die Keimdrüsen also. Entsprechend braucht es einige dieser Lebewesen für eine Mahlzeit, das war uns bisher immer zu viel Mord. Doch jüngst haben wir gelernt, dass es in Nordnorwegen viel zu viele Seeigel gibt und deshalb die klimarelevanten Kelpwälder von Kahlfraß bedroht sind. So landeten sie doch auf unserem Speiseplan. Wir sind gewissenhaft vorgegangen, haben zunächst als Pretest ein Tier roh verkostet und sichergestellt, dass wir den Geschmack mögen. Nach dem Öffnen mit der Schere und dem Säubern hat man fünf sternförmig angeordnete orangefarbene Löffelspitzen Meeresaroma vor sich, der Geschmack erinnert ein wenig an Austern. Also lecker! Allerdings hat alles, was man selbst in der Natur fängt, seinen blöden Moment. Bei Seeigeln ist das, wenn man nach einer Weile einen Blick auf den meerwassergefüllten Sammel-Eimer wirft und sieht: Das Essen will gehen und schafft es demnächst über den Eimerrand. Zwar haben die Tiere weder Herz noch Gehirn, aber offensichtlich merken sie anhand ihrer zahlreichen Mini-Tentakel, dass sie in keiner guten Situation sind. „Seeigel sehen mit ihren Füßen“ ergibt die Internetrecherche. Also schnell die Spaghetti gekocht und die Sauce zubereitet: Zwiebelwürfel in der Pfanne karamellisieren und mit etwas Chili würzen, eine erst in feine Scheiben geschnittene und dann grob gehackte Zucchini mitdünsten. Einen EL Crème légère und einen Schuss Sahne hinzufügen, das Ganze mit Weißwein, frischer Zitrone und Pfeffer abschmecken. Von der Flamme nehmen und die Gonaden (bis auf ein paar zur Deko) untermischen, mit Dillblättchen bestreut in einem Nest aus Spaghetti anrichten. Hätten sie ungefähr so auch im „Noma“ servieren können!

Ludger
Juli 18th, 2024 at 7:07 pm

Habt ihr eigentlich auch schon Rentiere verspeist? Wurden Euch ja sozusagen „On the Rocks“ serviert! Diese Seeigel sind jedenfalls echt dekorativ.
Lasst es euch gut gehen, ich wünsche euch noch ein paar tolle karibische Momente. Bleibt vorsichtig und gesund, auch wenn es in bekannte Gewässer geht.
Liebe Grüße vom Schreibtisch, Ludger

Heiko
Juli 20th, 2024 at 11:14 pm

Wir haben in der Tat eine sehr leckere Rentiersalami im Kühlschrank – schmeckt auch besser als die vom Elch…

Philipp
Juli 18th, 2024 at 9:55 am

Liebe Heiks,
tolle Rentierfotos! Ein wunderbarer kleiner Ausflug bei mittelleckerem Bürokaffee. Und die Foodfotos von Seeigeln machen hungrig und neugierig! Vielen Dank für die vielen tollen Berichte!
Grüsse aus dem Alltag
Philipp

Heiko
Juli 20th, 2024 at 11:12 pm

Neugierde war auch unser Haupttreiber 😉

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