Go with the Flow

Ohne euch langweilen zu wollen: Der Wind weht weiterhin meistens aus Südwest, für uns also von vorn – ist ja schließlich auch die offiziell vorherrschende Richtung in diesem Teil der Welt. Manchmal dreht er für ein paar Stunden ein wenig, so dass wir eigentlich weiter segeln könnten, doch das heißt noch lange nichts. Denn der Gezeitenstrom hat auch noch ein Wörtchen mitzureden. Im Rhythmus von Ebbe und Flut ändern sich Strömungsrichtung und -stärke. Tidentabellen und Gezeitenstromatlanten machen die Sache grob planbar, vor dem Ablegen kommt also das Rechnen. Einzelne Segelideen werden dadurch im Keim erstickt, andere modifiziert – indem wir zum Beispiel den Zeitplan ändern oder die Maschine mitlaufen lassen. Manchmal allerdings sorgt die Vorbereitung auch nur dafür, dass wir bereits beim Aufbruch wissen, dass die bevorstehende Etappe in Teilen richtig unangenehm wird. Die gestrige zum Beispiel: 80 nautische Meilen von Fécamp nach Cherbourg, eine Distanz, die nicht während einer Gezeit zu schaffen ist. So entscheiden wir uns, mit dem Strom zu starten, um möglichst viel Strecke bei Tageslicht zu schaffen: Herrlichstes Segeln, teils unter Blister, Flying Fish wird vom Strom auf bis zu zehn Knoten beschleunigt, standesgemäß fliegen wir nur so dahin. Dann kippt die Sache langsam und während der Strom gegen uns dreht, nimmt der Wind außerplanmäßig zu. Obwohl wir einigen Abstand zum berüchtigten Pointe de Barfleur halten, bauen sich absurd konfuse Wellen auf, schlingernd und bockend bewegen wir uns aufs Ziel zu, segeln sechs bis acht Knoten durch das Wasser, aber nur zwei bis vier über Grund. Als sich an Backbord mit konstanten 19 Knoten ein großer Frachter mit dem schönen Namen „Hermann Schulte“ vorbei schiebt, blicken wir ihm leicht sehnsüchtig nach… Große Erleichterung dann heute früh um drei Uhr, als wir endlich ziemlich durchgeschüttelt den Zielhafen erreichen, uns auf dem erstbesten Liegeplatz festknuddeln und in ein tiefes Koma fallen.

Und an Land so? Eine ganze Woche Aufenthalt hatten wir im hübschen Dieppe, wo unsere Recherche ergab, dass dies ein guter Ausgangspunkt für Fahrradtouren sei. So brechen wir südwärts auf, auf einer empfohlenen Route. Sie führt uns mit viel Steigung und Gefälle parallel zur Küste durch blühende Flachsfelder und hübsche Orte mit morbidem Charme: Pourville, Saint-Aubin, Varengeville, Sotteville, in Veules-les-Roses kehren wir um. Alle paar Zeiten erinnern Schilder daran, dass Auto- und Fahrradfahrer hier friedlich koexistieren und den vorhandenen Raum teilen sollen, und die französischen Autofahrer verstehen das sofort: Radler nicht töten, sondern nur erschrecken! Die insgesamt 60 Kilometer fahren sich also teils recht angespannt, weswegen wir für die zweite Tour die Strategie ändern: Wir falten unsere Falträder in einen Bus und lassen uns für zierliche 2,80 Euro pro Person 30 Kilometer ins Inland transportieren, nach Neufchâtel-en-Bray, um von dort auf der Avenue Verte zurück nach Dieppe zu radeln. Dies ist tatsächlich ein Fahrradweg, der den Namen verdient, er verbindet Paris und London entlang einer aufgegebenen Bahntrasse – nett und entspannt.

In der restlichen Zeit in Dieppe haben wir – genau wie während der kurzen Stopps in Fécamp und heute hier in Cherbourg – einfach das Dasein und die Versorgungslage genossen. In all diesen Orten waren wir vor neun Jahren, auf dem Rückweg aus der Karibik, bereits einmal. Und Wiedersehen macht hier Freude! Dennoch fiebern wir allmählich Neuland entgegen und schon morgen ist es so weit, dann verlassen wir den Port de Chantereyne mit seiner betriebsamen Hochsee-Atmosphäre gen Alderney, das ist die nördlichste der Kanalinseln. Am Nachmittag würde dafür ein netter Wind wehen, doch diesmal liegt zunächst, nahe dem Cap de la Hague, ein Inshore Eddy (küstennaher Wasserwirbel) auf unserem Weg und dann das Alderney Race, der stärkste Gezeitenstrom Westeuropas. Da rechnen wir nur der Form halber selbst und befolgen dann den eindringlichen Rat sämtlicher Fachliteratur zu dieser Etappe: mit der Segelyacht drei Stunden vor dem Hochwasser von Dover aufbrechen, des Eddy wegen. Um 11 Uhr werden wir also starten – dann halt erstmal ohne Wind, unter Motor.

Das Blogbild oben zeigt übrigens die astronomische Gezeitenuhr in der Abbatiale de la Sainte-Trinité in Fécamp, ein Beispiel für frühe wissenschaftliche Technologie aus dem Jahr 1667.

Ludger
Juni 16th, 2025 at 12:35 am

Beste Grüße aus Island,
ich hab gestern am Strand querab gepeilt: ca. 9.000 km freier Atlantik bis Brasilien…
LG nicht vom Schreibtisch, Ludger

Heidi Wulf
Juni 15th, 2025 at 5:41 pm

Mit Alderney betreten wir mit euch Neuland. Wir waren nur auf Guernsey und Jersey. War abenteuerlich, da in die tidenunabhängige Marina zu kommen, bei Andrang läuft einem die Zeit bzw das Wasser davon. LG hup

Silke
Juni 14th, 2025 at 1:49 pm

Manchmal ist es gut, dass wir erst lesen können, wie es euch erging, wenn ihr gut am nächsten Ziel angekommen seid…. Heiko, du hast nicht nur quasi all meine Reislustgene, ebenso sind mir keine Abenteuerlustgene geblieben… Weiterhin gute Reise, dein Schwesterlein….

Heiko
Juni 15th, 2025 at 1:08 pm

Dankeschön – wir werden weiter berichten;)

From Dust to Dirt (Rudi & Crew)
Juni 13th, 2025 at 5:56 pm

Na – es geht weiter! Formidabel!!!! Dann wünsche ich einen guten Rutsch auf die Kanalinseln. Das ist dann mal wirklich Neuland für Euch, oder?

Heiko
Juni 15th, 2025 at 1:06 pm

Ja, endlich Neues – und schon die Tatsache, dass die Autos auf der falschen Seite fahren, macht es zum Abenteuer! Ok, zum kleinen Abenteuer, da es hier gefühlt nur ein paar Autos gibt…

Carsten
Juni 13th, 2025 at 6:23 am

Guten Morgen ihr Zwei
Viel Erfolg und Spaß auf eurer heutigen Etappe zur Insel, wir begleiten euch, und freuen uns auf weitere schöne und spannende Berichte und Fotos.
Ahoi
LG Carsten

Heiko
Juni 15th, 2025 at 1:04 pm

Gut angekommen und wunderbar angetroffen.

LEAVE A COMMENT


5 + = 9

SY Flying Fish by Heiks
All

Go with the Flow

8