Boulogne-sur-Mer

Hunderte Kittiwakes bevölkern die Westseite der Zufahrt nach Boulogne-sur-Mer und bereiten uns ein kreischend-herzliches Willkommen, als wir die Gästestege „au coeur de la ville“ ansteuern. Dies kann kein schlechter Ort sein! Der erste Blick fällt zwar auf quadratisch-praktische Hochhaus-Bebauung, doch es gibt viel Charmantes zu entdecken (wofür bei unserem Ultrakurzbesuch vor neun Jahren keine Zeit war). Ein erster Rundgang führt uns durch den lebendigen unteren Teil der Stadt bergan ins historische Zentrum zur „Ville fortifiée“ mit der Basilika Notre-Dame im Zentrum, drumherum malerische Gebäude und eine alte Stadtmauer, auf der sich prima flanieren und die Vorsaison-Geschäftigkeit beobachten lässt: Überall wird gebastelt, hergerichtet, aufgerüscht, noch laufen die wenigen kleinen Touri-Gruppen Slalom um die Baustellen. Boulogne hat eine angenehme Atmosphäre, ein guter Ort, um die bevorstehende lange Südweststarkwindphase zu verbringen. Zumal wir uns in der Stadt mit dem größten Fischereihafen Frankreichs befinden. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses Liane, legen den ganzen Tag Fischerboote an und ab und bestücken das Paradies oberhalb: den täglichen Fischmarkt mit seinen aneinandergereihten Ständen: Le Saint-Jules, P’tite Crevette, Chez Ginette, La Bretonne, Le Poisson d’Argent, Le Pecheur à pied… Es ist eine Freude, sich durch die Muscheln, Fische, Meeresfrüchte zu probieren. Und zu unserer Überraschung sogar eine erschwingliche Freude! Das gilt nicht nur für das Salzwassergetier, selbst die alltäglichen Lebensmittel sind hier günstiger als in Deutschland.

Auch die Umgebung von Boulogne hat ihren Reiz: Gen Norden wandern wir teils oberhalb, teils unterhalb der Klippen zum kleinen Badeort Wimereux mit seiner schmucken Uferpromenade. Südwärts erreichen wir per Fahrrad Le Portel und laufen auch dort die Küste entlang, bis zu einem gut frequentierten Spot für Gleitschirmflieger, denen wir eine Weile zusehen bei ihren verwegenen Starts und Landungen. Beide Touren sind landschaftlich wunderschön und machen Spaß, doch wir werden auch daran erinnert, welch existenzielle Dramen sich hier tagtäglich im Verborgenen abspielen: So begegnen wir erst einer Gruppe Polizisten, deren Job es ist, mit Ferngläsern Strand und Meer abzusuchen. Und zwischen Felsen und den Ruinen abgestürzter Weltkriegsbunker entdecken wir kaputte Schlauchboote, zurückgelassene Klamotten, Spielkarten und Plastikverpackungen, die Spuren von Migranten, die hier ausgeharrt und auf ihre Chance gewartet haben, den Kanal gen Großbritannien zu überqueren, das bei klarem Wetter so nah scheint. An einem Morgen ist gegenüber von Flying Fish ein großes Polizeischiff festgemacht, das eine Gruppe Menschen an Land gebracht hat, die nun hinter Stacheldraht auf dem Parkplatz warten, in Rettungsfolien gehüllt. Aus Medienberichten wissen wir, wie verzweifelt und unter welchen Gefahren diese Männer, Frauen und Kinder immer wieder die lebensgefährliche Überfahrt versuchen. Nun lehrt uns eine Doku, dass Großbritannien erfolgreich Ankommende inzwischen so schlecht behandelt, dass viele von ihnen versuchen, zurück auf das Festland zu gelangen. Eine Aussichtslosigkeit, die wir uns nicht mal vorstellen können.

Nach ein paar Tagen ist erkundet, was tagsüber erkundet werden kann, die Abende verbringen wir sehr kurzweilig mit unseren Schweizer Stegnachbarn Rahel und Roger von der SY Avaley. Als die gen Norden weiterziehen, kriegen auch wir langsam Lust auf einen Ortswechsel, doch der Südwest lässt weiterhin auf unbestimmte Zeit nicht nach. Gut, denken wir uns, nutzen wir halt die Zeit und erledigen noch ein paar mitgenommene Baustellen – um dann erst zu bemerken, welch fettes Geschenk uns gerade der Surfergott macht! Denn direkt um die Ecke, zehn Minuten mit dem Rad, befindet sich das perfekte Stehrevier. Der Wind weht hier auflandig, wie gemacht, um mit dem Wingsurfen zu beginnen. Im Winter haben wir ein aufblasbares Board und einen gebrauchten Wing angeschafft, damit geht es nun – nach ein paar Youtube-Videos für die Grundbegriffe – abwechselnd aufs Wasser. Okay, für den Anfang wäre ein Beaufort weniger auch nett gewesen, doch wir feiern nach einigem Probieren erste Erfolge und schaffen es, halbwegs selbstbestimmt geradeaus zu fahren. Der neue Sport gefällt uns so gut wie erhofft: deutlich weniger Materialschlacht als beim klassischen Windsurfen und im Vergleich zu den schmerzhaften Schleuderstürzen beim Kiten nun eher sanfte Abgänge vom Board ins Wasser. Als an unserem letzten Beach-Tag deutlich weniger Wind weht und wir trotzdem ein wenig üben, umkreist uns eine neugierige Robbe. Alle paar Meter taucht sie kurz auf und scheint wissen zu wollen, was für seltsame, unförmige Wesen sich da in ihrer Bucht um Eleganz bemühen. Mühelos lesen wir ihre Gedanken: Da ist noch viel Luft nach oben.

Gestern dann haben wir die Chance ergriffen und sind sehr, sehr hoch am Wind rumpelig-anstrengende 54 nautische Meilen weiter gesegelt, wir grüßen herzlich aus Dieppe!

Heidi Wulf
Juni 7th, 2025 at 11:17 am

Boulogne sur mer, ein abwechslungsreicher Hafen! Fisch und Meeresgetier geht nicht frischer. Ein Griff in die Werkzeugkiste kann hilfreich sein, bei Hummer und Co.
Eure Wingversuche deuten auf Naturtalent oder habt ihr Surferfahrung.. Lbgr hup

Rudi & Crew
Juni 4th, 2025 at 11:40 am

Na – das sieht mit dem Wing doch schon sehr gut aus! Ist das jetzt einfacher zu erlernen als Kiten und Surfen?
Und Boulogne scheint ja gar nicht so unansehnlich zu sein….

Liebe Grüße von den Mermaids!!!

Svenja
Juni 2nd, 2025 at 6:15 pm

Liebe Heiks,
ich hatte gestern den sich wieder südwärts bewegenden Punkt auf Vessel Finder entdeckt und mich für euch gefreut, dass ihr nach so langer Zeit offenbar passables Wetter gefunden habt. Vielen Dank für die schönen Eindrücke und offenbar scheint euch ja alles zu liegen, was mit Wind und Wasser zu tun hat 🙂

Heike
Juni 2nd, 2025 at 8:47 pm

Liebe Svenja, ehrlich gesagt ist Heiko der Talentiertere bei Wind- und Wassersport. Manchmal schau ich heimlich nach, ob ihm zwischenzeitlich Schwimmhäute gewachsen sind.

Thomas
Juni 2nd, 2025 at 3:50 pm

Beim nächsten Besuch unbedingt mit dem Rad zum Cap griz nez fahren und dort in La Sitene Fruits de mer essen und die Aussicht genießen. Manchmal schau eine Robbe dem Esser zu…

Heike
Juni 2nd, 2025 at 8:43 pm

Alles klar, wird abgespeichert! Irgendwelche kulinarischen Tipps für Dieppe und unseren weiteren Weg die Küste entlang???

Carsten
Juni 2nd, 2025 at 2:57 pm

Hallo Ihr Zwei Lieben,
wieder einmal ein herzliches Dankeschön an Euch für die Einladung, mit Euch die Gegend zu erkunden.
Es macht einfach super viel Spaß, mit euch unterwegs zu sein und zu reisen.
Freu mich schon auf Dieppe
Ganz liebe Grüße
Vom KNUTT

Heike
Juni 2nd, 2025 at 8:41 pm

Lieber Carsten, so wie die Windvorhersage aussieht, könnte tatsächlich auch Dieppe einen eigenen ausführlichen Blogbeitrag bekommen…

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